Christkindels Chauffeur
Es ist Abends den 24. Dezember um 19:30 Uhr. Pesche verabschiedet sich von den freundlichen Leuten, die er heute kennen gelernt hat. Mit Schwung hebt er seinen Hund, den Rex in seinen „Japanischen Kampfpanzer‟, wie er seinen Toyota nennt. Schliesst die Hecktüre, und watet durch den Neuschnee, der in den letzten Stunden gefallen ist. Steigt ins Auto ein, und fährt los. „Mann, mag das wieder schneien‟ denkt er und biegt in die Hauptstrasse ein.Angefangen hatte alles heute Morgen, als er einen Bekannten auf dem Morgenspaziergang mit Rex antraf. Dieser Bekannte schilderte ihm sein Problem. Er habe einen grossen Anhänger mit Paletten voller Waren, die so rasch wie möglich in den Jura gebracht werden müssen. Er aber weder Zeit dazu, noch ein geeignetes Zugfahrzeug habe, um das zu erledigen. Pesche, seit langem Arbeitslos, witterte einen kleinen Verdienst, und meinte darauf hin, dass er ein Zugfahrzeug habe, das mit einer 3.5 Tonnen Anhängerkupplung ausgerüstet ist. Der Bekannte meinte darauf, dass er genau das benötige. Und rasch war man sich einig, dass Pesche diesen Transport noch heute erledigen soll, und dafür auch entschädigt werde. So brachte er den Anhänger mit der Ware zu ihrem Empfänger, und lud die Paletten auch noch mit dem Stapler ab. Danach wurde er in die Küche eingeladen, wo man beim Plaudern und bei Kaffee die Zeit vergass.
So fährt er nun vorsichtig durch den Neuschnee, der gut und gerne 30 cm hoch ist. Ein Schneepflug wäre jetzt angebracht. Aber die sind wohl alle am Weihnachten feiern. Was Pesche auch recht ist. So kommt er an eine grosse Kreuzung. Die Verkehrsschilder sind alle mit Schnee bedeckt und daher unleserlich. Aber er denkt, einfach nach rechts Richtung Moutier. Dann kommt es gut. Gut hat er jetzt keinen Anhänger mehr am Auto. So kann er etwas zügiger fahren. Und er ist auch der einzige, der bei diesem Wetter noch unterwegs ist. Bald ist er schon in Moutier. Leere Strassen und Schneesturm. Weiter geht es die Klus nach Court hinauf. Ja, wie oft ist er diese Strecke schon gefahren? Und das bei jedem Wetter und jeder Tageszeit. Auch heute geht alles gut. Kein Wunder, wenn man mit jeder Kurve per Du ist.
Pesche ist in Gedanken versunken. Denkt an seine verstorbenen Eltern, und wie oft er diese Strecke mit ihnen gefahren ist, als er kurz vor Court erschrickt. „Verdammt, was macht denn diese Vogelscheuche bei diesem Wetter auf der Strasse?‟ Beinahe hätte er eine Frau übersehen, die auf der Strasse steht, und wild winkt. Knapp bringt er seinen Wagen zum stehen. Die Frau sieht mit ihrem Mantel und der Mütze wirklich einer Vogelscheuche ähnlich. Und in der Hand hat sie mehrere Plastiksäcke, auf denen ein grosser goldener Engel aufgedruckt ist. Schon öffnet sich die Türe auf der Beifahrerseite und die Frau fragt auf deutsch: „Hoi Pesche, Du kannst mir sicher helfen, gell?‟ „Ja, wenn es weiter nichts ist, ich fahre Richtung Tavannes!‟ „Hey, super, dann komme ich mit!‟ Sie legt ihre Plastiksäcke auf die Rücksitze. Pesche ruft noch nach hinten: „Achtung! Raubtier!‟ Aber sie hat den Rex schon entdeckt, und streichelt ihn am Hals und am Kopf.
Sie schliesst die hintere Türe, und steigt vorne ein. „Hallo Pesche, ich bin das Chrigeli!‟ und reckt Pesche die rechte Hand entgegen. Pesche drückt die Hand, und denkt, woher weiss denn die meinen Namen. Die Hand, die er in der Hand hält, ist so fein und zärtlich, wie er es nicht erwartet hat. Und die Haut ist so fein und weich. Die passt gar nicht zu ihrer Kleidung. Eigentlich hat er eine raue Haut und einen kräftigen Händedruck erwartet. So wie das durch jahrelange körperliche Arbeit entsteht. „Von mir aus kann’s losgehen‟. Mit diesen Worten wird Pesche aus seinen Gedanken gerissen. Er lässt die Hand los, und fährt wieder zurück auf die Strasse. So fahren sie weiter Richtung Tavannes. In Gedanken versunken lenkt Pesche das Auto durch den Schnee. „Ja, was habe ich mir denn da wieder angelacht?‟ denkt er.
Plötzlich zeigt Chrigeli nach vorne und sagt: „Da vorne beim Bahnübergang
links.‟ Pesche schaut Chrigeli fragend an und sagt: „Das ist aber nicht dein ernst?‟
„Doch, ich muss da oben noch etwas erledigen, und du bist dazu auserwählt, mir dabei zu helfen.‟
„Ja Bingo, na, dann viel Glück!‟ Pesche kennt die Strecke nur zu gut, und weiss daher, wie es
dort oben im Winter ausschaut. Hat er dort oben doch schon manche wilde Feier erlebt.
Und wie oft haben wir damals Autos ausgeschaufelt, oder aus dem Tiefschnee abgeschleppt? Wenigstens hat er alles dabei, das für
solche Aktionen nötig ist, wie Schneeketten, Schaufel und Bergematerial. Ja die guten alten Zeiten.
Rasch gewinnen sie an Höhe. Im Moment geht es noch gut,
aber wenn wir aus dem Wald kommen, kann es rund gehen. Chrigeli dirigiert Pesche den Berg hinauf.
Wumm. Kaum haben sie den Wald verlassen, erfasst sie die erste Windböe mit voller Wucht.
Pesche sieht kaum etwas. Er schaltet die Scheibenwischer ein, und sieht wieder einigermassen, wo der Weg durchgeht.
Eigentlich hat es Pfosten, die den Verlauf des Weges anzeigen. Aber bei diesem Schneesturm ist es nur ein ahnen, wo der Weg durch geht. Alles geht gut, bis Pesche plötzlich stoppt und sagt, „Nein, nicht mit mir!‟. Er schaut sich die Situation genauer an. Auf dem Weg ist alles schön mit Schnee bedeckt. Aber links auf der Weide schaut das Gras aus dem Schnee heraus. Pesche’s Alarmglocken läuten Sturm. Vorsichtig lenkt er den Wagen auf die Weide, wo das Gras aus dem Schnee heraus schaut. Denn das bedeutet, dass der Weg nicht auf der Höhe der Weide liegt. Und somit in solchen Senken möglicherweise tiefer Schnee liegt, und man unter Umständen den Wagen frei schaufeln muss. Aber auf der Weide können sie das Hindernis problemlos umfahren.
Und so geht es weiter. Der Schneesturm legt sich langsam, und am Himmel sieht man nun den Mond und die Sterne. Pesche macht es nun Spass im Neuschnee herumzufahren. Und zügig fahren sie über die tief verschneite Jurahöhe. Plötzlich sagt Chrigeli: „Hey, mach das Licht aus, wir kommen an’s Ziel!‟ Pesche schaltet das Licht aus. Schemenhaft sieht er nun einen Bauernhof, wie sie in dieser Gegend üblich sind. Chrigeli befielt ihm „Fahr einfach darauf los.‟
Pesche fährt auf den Bauernhof zu, und sucht eine Möglichkeit, möglichst nahe an das Haus heran zu fahren. Doch das ist nicht möglich. Entweder hat es Zäune, oder der Schnee scheint so hoch zu sein, dass man mit Schwung hindurch fahren muss. Aber scheinbar sind wir nun auf Schleichfahrt. Und so ist ein durchfahren des tiefen Schnee’s mit Vollgas nicht angebracht. Chrigeli löst das Problem, in dem sie Pesche am Ärmel zupft und sagt: „Halt hier an, und warte auf mich‟. Pesche parkiert das Auto so, dass er jederzeit problemlos wieder wegfahren kann, ohne noch grosse Manöver zu fahren. Chrigeli steigt aus, schnappt sich ihre Plastiksäcke vom Rücksitz und eilt durch den tiefen Schnee dem Haus entgegen.
Pesche steigt nun selber aus dem Auto, geht nach hinten, öffnet die Hecktüre und setzt Rex in den Schnee. Rex schüttelt sich. Schaut Pesche an, und schnüffelt dann im Schnee. Es geht nicht lange, und Rex versäubert sich.
Pesche schaut Richtung Bauernhof und denkt, wenn um diese Zeit noch Licht im Stall brennt, ist das kein gutes Zeichen. Er stapft durch den Schnee Richtung Stalltüre, die offen steht. Rex folgt ihm. Bei der Türe angelangt bleibt er stehen. Denn das, was er jetzt sieht, erinnert ihn an die Bilder von Weihnachtskrippen. Im Stall liegt ein Esel, der genüsslich am Stroh knabbert, das am Boden liegt. Dahinter liegt eine Kuh, die sich von einer grossen Anstrengung erholt. Davor steht ein frisch geborenes Kalb auf wackeligen Beinen, das von zwei Kindern mit Strohbüschel abgerieben wird. Neben den Kindern knien die Eltern im Stroh, die sich umarmen. Er hört die Frau sagen: „Das ist unser Neuanfang. Es ist ein Zeichen, dass es jetzt wieder aufwärts geht mit uns!‟ Der Mann sagt: „Wenn wir jetzt so weiterfahren, kommt alles wieder gut, wir sind aus dem Tal der Tränen raus und können wieder lachen. Es geht aufwärts mit uns.‟
Pesche schaut zu Rex hinunter. Rex schaut zu ihm hinauf, und dann wieder in den Stall. Normalerweise wäre Rex nun direkt in den Stall gerannt, um alle zu begrüssen. Doch jetzt steht er einfach in der Stalltüre und beobachtet interessiert, was da im Stall geschieht. Als hätte er begriffen, dass da etwas besonderes geschieht.
Noch in Gedanken versunken, spürt Pesche, wie ihn etwas auf die Achsel klopft. Er dreht sich um, und sieht Chrigeli,
die ihm sagt: „Deine Aufgabe ist somit erledigt. Du kannst nach Hause fahren. Ich habe noch etwas
zu erledigen, und dann Feierabend.‟ Pesche schaut sie fragend an. Was soll denn das wieder bedeuten?
Er kann doch diese Frau nicht einfach hier oben in der Kälte stehen lassen. Doch Chrigeli sagt ihm nur:
„Wenn Du jetzt den Weg zurück fährst bis zur grossen Kreuzung mit den Baumstämmen, kennst du dich wieder aus,
und findest den Heimweg problemlos.‟
Chrigeli nimmt Pesche’s rechte Hand in ihre Hände, beugt sich nach vorne, gibt ihm einen Kuss auf die
linke Wange und meint dann: „Du hast ein riesiges Herz am rechten Fleck. Bleib so wie du bist.
Es kommt alles gut. Glaub mir das!‟
Pesche weiss im Moment nicht, wie ihm geschieht, und was er sagen soll. Chrigeli wischt ihm eine Träne von
der Wange, löst sich von ihm und sagt nur: „Ich muss jetzt gehen, mach’s gut!‟
Sie geht ein paar Schritte von Pesche weg, und verwandelt sich plötzlich in ein liebliches, warmes Licht.
Und er sieht wie das Licht über die Jurahöhen fliegt, und dann verschwindet.
Pesche sagt zu Rex „Komm‟ und sie gehen zurück zum Auto. Pesche hebt Rex ins Auto, steigt ein und fährt los. All das, was jetzt geschehen ist, kann er nicht begreifen. Wie in Trance fährt er los. Bei der besagten Kreuzung dreht er automatisch nach links. Denn wieso soll er wieder ins Tal fahren, wenn er doch schon auf diesem Berg ist? Es geht auch anders. Falls er den steilen Weg hochfahren kann, der noch auf ihn warted. Konzentriert fährt Pesche den Berg hoch. Als er an einem Bauernhaus vorbei kommt, sieht er zwei Gestalten im Schnee stehen. „Ja, heiligen BimBam, was machen denn die Zwei hier um diese Zeit?‟ Im Haus ist kein Licht zu sehen. Er fährt zu ihnen hin und hält an.
Pesche lässt die Scheibe runter, und fragt: „Hey, ihr zwei, was macht ihr denn hier?‟ Der eine antwortet: „Wir gehen nach Biel/Bienne‟ Pesche stellt fest, dass die zwei einiges über den Durst getrunken haben. Das kommt nicht gut, wenn ich die nun hier im Schnee alleine lasse. Denkt er. „Kommt, steigt ein, ich fahre auch nach Biel‟ lädt er die zwei Burschen ein. Diese lassen sich nicht zweimal bitten und setzen sich zu Pesche ins Auto. „Aber du kennst den Weg nach Biel?‟ fragt der eine. „Den kennt mein Auto bestens‟ antwortet Pesche lachend. „Und wo müsst ihr hin in Biel?„ fragt Pesche. Der andere antwortet: „Kreuzplatz‟. Pesche lacht laut heraus. Diese Adresse kennt er, da hat er auch einmal gewohnt. „Alles klar, on y va!‟. Pesche fährt los, und schon bald ist es still im Auto. Von hinten hört er ein leises Schnarchen, und sein Gast auf dem Beifahrersitz hängt auch irgendwie komisch in den Gurten. Ja, sollen sie doch schlafen. Pesche muss schmunzeln. Ihm ginge es auch nicht anders.
Auf dem Parkplatz vor dem Hochhaus hat Pesche mühe die beiden zu wecken. Doch als sie endlich realisieren, dass sie zu Hause sind, steigen sie zügig aus dem Auto. Auf die Frage, was es denn kostet, entgegnet Pesche nur: „Ist schon in Ordnung, musste ja eh hier durch.‟ Sie verabschieden sich, und Pesche macht sich auf den Heimweg.
Auf der Autobahn kommt es Pesche vor, als würde er einen Kampfjet fliegen, und nicht einen Kampfpanzer fahren.
Ja, der hat jetzt wirklich Flügel gekriegt.
Schon bald parkiert er sein Auto zu Hause in der Einstellhalle. Mit Rex macht er noch den
Gute-Nacht-Spaziergang und steigt danach die Treppe zur Wohnung hoch.
Bei der Wohnung angekommen fragt er sich,
was das denn soll. An der Türfalle seiner Wohnungstüre hängt ein Plastiksack, der genau so aussieht wie die,
die Chrigeli bei sich hatte. Mit einem grossen goldenen Engel aufgedruckt. Er nimmt den Plastiksack von der
Türfalle, schliesst die Wohnung auf, und sie treten ein. Wie gewohnt zieht er Jacke und Schuhe
aus, reibt den Rex auf dem Balkon das Fell trocken, und versorgt ihn dann mit frischem Wasser und Futter.
Er giesst sich roten Wein in ein Glas und schneidet ein grosses Stück Brot ab. Aus dem Kühlschrank nimmt er
Käse und setzt sich auf das Sofa.
Nach einem Schluck Wein nimmt er den Plastiksack, der vorher an der Türfalle hing. Fährt mit der Hand hinein, und zieht eine Schachtel und einen Zettel heraus. Auf der Schachtel steht in grossen goldenen Lettern: „Vielen Dank, alles Gute, Chrigeli‟. Er öffnet die Schachtel, und darin ist die Fotokamera, von der er schon lange träumte. Auf dem Zettel steht: „Hallo Pesche, Es ist so weit, habe viel Arbeit für Dich! Melde Dich am Montag! Gruess Wali‟ darunter ist noch eine Telefonnummer notiert.
Pesche weiss nicht, wie ihm geschieht. In der einen Hand hält er zitternd die Schachtel mit der Kamera, und in der anderen Hand den Zettel mit der Nachricht von Wali. Jetzt kann er sich nicht mehr beherrschen, und die Tränen fliessen ihm über die Wangen. Während er die Tränen wegwischt denkt er nochmals zurück, was in den letzten Stunden alles geschehen ist.
- Wieso musste er ausgerechnet heute dringend in den Jura fahren?
- Er denkt an die Szene beim Bauernhof. Eine schönere Weihnachtskrippe hat er bis dahin nicht gesehen. Es scheint, als hätte da eine Familie eine neue Chance erhalten.
- Auch geht ihm Chrigeli nicht aus dem Kopf. Und es wird ihm erst jetzt bewusst, dass es im Auto immer nach Weihnachten geduftet hat. Nach Zimt und all den Gewürzen, die man in der Weihnachtszeit verwendet. Er erinnert sich an ihre liebliche Stimme, an ihren Kuss, und wie sie sich plötzlich in ein Licht verwandelte.
- Zuletzt die zwei Burschen, die ohne seine Hilfe womöglich im Schnee gestürzt und erfroren wären, oder sich verlaufen hätten.
Er schaut auf die Kamera und den Zettel.
Er denkt, das alles kann kein Zufall sein. Da steckt viel mehr dahinter. Pesche kann sich das ganze nicht erklären.
Aber er ist jetzt überzeugt:
Das Christkind? Das gibt es wirklich!