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Jetzt gehe ich Weihnachten holen

Joseph, seine Freunde nennen ihn Sepp, schaut zufrieden auf die Zeitung. Einmal mehr hat er das Sudoko locker geschafft. Er nimmt den letzten Schluck von seinem kalt gewordenen „Kafi Fertig“. Eigentlich sollte er um diese Zeit keinen Alkohol trinken. Aber heute zählen für ihn Grundsätze und Konzepte nichts. Zu schwer nagen die Geldsorgen sowie die Wünsche seiner Kinder an seiner Seele. Und so ist er auch früher als seine Frau aufgestanden. Hat die Zeitung aus dem Briefkasten geholt und sich ein gutes „Kafi Fertig“ gebraut. Will heissen, mit viel Schnaps, damit die Gedanken sich in eine andere Richtung bewegen sollen. Aber immer wieder sieht er die Augen seiner Kinder, wie sie strahlen, wenn er mit ihnen beim Grossverteiler vorbei geht, und dort die Weihnachtsbäume stehen. Und immer hoffen sie, dass die Eltern doch noch einen Weihnachtsbaum kaufen.

Doch Sepp ist schon seit längerer Zeit von der Sozialhilfe abhängig. Und so muss jeder Rappen drei mal umgedreht werden, bevor man ihn ausgeben kann. Für das Weihnachtsfest ist eigentlich alles gerichtet. Nur für den Weihnachtsbaum reicht das Geld auf keinen Fall. Doch es ist der grösste Wunsch seiner Kinder, dass wieder einmal ein schöner Weihnachtsbaum in der Stube steht. Egal, wie gross die Geschenke darunter sind. Aber woher nehmen und nicht stehlen? Verdammt, was soll er nur machen?

Da in der Schnapsflasche nur noch ein kleiner Schluck ist, trinkt er den noch, und legt die Flasche in den Korb mit dem Leergut. Er denkt noch immer an den Weihnachtsbaum. Ja, warum nicht stehlen? Aber wenn schon, dann muss es ein besonderer sein. Sepp erinnert sich an einen Waldspaziergang, an dem er mal einen schönen Tannenbaum gesehen hat. Der wäre jetzt gerade der richtige. Aber eben.

Sepp überlegt sich, wie man das anstellen könnte. Das Problem war, mit einer Tanne auf dem Buckel durch das Dorf zu marschieren, ohne dass jemand Verdacht schöpft. Aber eigentlich müsste man ja nur cool genug bleiben, und alle denken, das sei normal. So, in etwa, hat ihm mal einer gesagt, der aus dem Kosovo kommt. Und so hat sich Sepp das weitere Vorgehen zurecht gelegt.

Er geht ins Schlafzimmer, und zieht seine Arbeitskleider an. Seine Frau Maria fragt ihn, ob er arbeiten gehen müsse. Er antwortet nur mit Nein. Es lässt ihr aber keine Ruhe, und sie fragt weiter, wie so er denn seine Arbeitskleider anzieht, was er sonst an einem Arbeitsfreien Tag nie machen würde. Maria erhielt keine Antwort. Sepp weiss genau, wenn er ihr nun sagen würde, was er jetzt im Sinn hat, gäbe es wieder ein Riesen Theater, und genau das braucht er jetzt nicht. Deshalb schweigt er.

Die Arbeitskleider geben der nun geplanten Aktion einen offiziellen Hauch, und er ist einer von 3‘500 Mitarbeiter, die täglich die gleichen Klamotten tragen. Mit einem geübten Handgriff nimmt er den Rucksack vom Hacken, in dem er immer das Mittagessen mit zur Arbeit nimmt. Damit verschwindet er aus der Wohnung, ohne sich nach Frau und Kind umzudrehen. Er hat nun andere Sorgen.

Im Keller packt er das Beil und den Fuchsschwanz, den er noch von seinem Vater geerbt hatte, in den Rucksack. Gerade will er den Rucksack zuschnüren, da hört er die Stimme von Maria: „Hei was soll das?“ Er antwortet nur: „Jetzt gehe ich Weihnachten holen.‟

Maria Antwortet nur: „Sei bitte vorsichtig. Versprich mir das!‟ Sie weiss, was immer er nun vor hat, zurück halten kann ich ihn nicht mehr. Sepp antwortet trocken: „Wird schon schief gehen‟. Er schwingt den Rucksack auf den Rücken und verlässt das Haus. Kaum hat er das Haus verlassen, peitscht ihm der Regen ins Gesicht. Und er ist froh, hat er die richtigen Kleider angezogen.

Beim Grossverteiler bleibt er stehen. Die haben doch wirklich den Apparat draussen gelassen, mit dem man so einfach die gekaufte „Hallelujastaude‟ in einem Netz verpacken kann, über Nacht draussen gelassen. Sepp schreitet auf den Apparat zu, zieht ein paar Meter von diesem Netz aus dem Apparat, und schneidet das ganze mit seinem Sackmesser ab. Das Netz verstaut er in seinem Rucksack. Zum Glück ist es noch Morgens früh, und noch kein normaler Mensch unterwegs. Einzig ein Mann mit seinem Hund steht da auf dem Gehsteig. Der ist aber damit beschäftigt, das Geschäft seines Hundes wegzuputzen.

Sepp schreitet weiter, und nimmt den Weg hoch zum Wald unter die Füsse. Ihm ist bewusst, dass das nun der einfache Teil seines Vorhabens sein wird. Aber wie wird es sein, wenn er mit einem Weihnachtsbaum auf dem Buckel durch das Dorf marschieren wird. Hat er dazu die Nerven? Was, wenn ihn jemand darauf anspricht? Immer wieder sagt er sich: „Locker bleiben, es kommt schon gut!‟ Ja, leichter gesagt als getan.

Im geistigen Auge stellt er sich vor, wie sich die Kinder freuen, wenn heute Abend doch noch ein Weihnachtsbaum in der Stube steht. Und das gibt ihm Mut. So schreitet er weiter und kommt bald einmal an den Waldesrand. Als wäre er täglich da gewesen, findet er den auserwählten Baum rasch und fast automatisch.
Dort angekommen überkommt ihn doch noch ein komisches Gefühl. Wieso soll er diesen schönen Baum nun fällen? Er hat doch noch so viele Jahre vor sich. Man könnte ja die Kerzen hier an den Baum anbringen, und das ganze als Waldweihnachten abtun. Und ich müsste den Baum auch nicht durch das Dorf tragen.
Eine Böe peitscht ihm den Regen erneut ins Gesicht, und seine Überhosen sind schon lange komplett durchnässt. Ja, da brennt keine Kerze, und den Kindern gefällt das auch nicht. Also was soll‘s. Dieser Baum wurde dafür auserkoren, mit uns Weihnachten zu feiern.

Vorsichtig schaut er sich um. Kein Mensch weit und breit. Kein Wunder bei diesem Wetter.
Aus dem Rucksack zieht er nun den Fuchsschwanz, schaut sich den Baum an, und weiss genau, wo er den Stamm durchtrennen muss. Fast zu einfach lässt sich der Stamm der Tanne durch sägen. Und schon liegt der Baum vor ihm auf der Erde. Mit dem Netz, das er beim Grossverteiler mitlaufen liess, verpackt er den Tannenbaum so, dass es aussieht, als hätte er den beim Grossverteiler gekauft. Irgendwie ist er stolz auf seinen Mut. Er hätte eigentlich auch eine Tanne beim Grossverteiler klauen können. Die lassen das ganze ja über Nacht draussen. Er wäre weniger nass geworden, und es wäre sicher auch ein viel schönerer Weihnachtsbaum geworden. Doch das widerspricht den Grundsätzen von Sepp. Klaut er einen Weihnachtsbaum beim Grossverteiler, kann das wieder eine Arbeitsstelle kosten, und es geht bald einmal jemandem auch so schlecht wie ihm. Und ein Weihnachtsbaum direkt aus dem Wald ist immer noch etwas spezielles.

Er zieht den Rucksack an, und will den Weihnachtsbaum auf seine Achsel schwingen, da sieht er den Fuchsschwanz noch am Boden liegen. Mit einem Fluch legt er den Weihnachtsbaum wieder auf den Boden, zieht den Rucksack aus und verstaut den Fuchsschwanz im Rucksack. Jetzt kommt die schwierige Phase denkt er und schwingt den Weihnachtsbaum auf seine Schultern. Mit zügigen Schritten zieht es ihn nun nach Hause.

Voller Freude schreitet er nun auf dem Weg und kämpft gegen Wind und Regen. Dabei vergisst er, sich umzusehen und vorsichtig zu sein. Fast wäre er in die Falle gelauert. Wäre da nicht plötzlich ein schwarzer Hund aufgetaucht, der ihn neugierig beschnuppert.
Da ist auch schon sein Meister. Auch vom Regen komplett durchnässt. Irgendwie strahlt sein verwildertes Aussehen Vertrauen und Ruhe aus. Er packt Sepp an der freien Schulter, und deutet ihm, dass er anhalten soll. Als Sepp still steht, deutet der Mann nach vorne Richtung Waldrand und hält seine rechte Hand an den Kopf, so als würde er militärisch salutieren.
Sepp begreift, dass da vorne wohl „Freund und Fallensteller‟ sein muss. Genau das fehlte ihm noch zum Glück. Was machen? Dort geht doch der Weg nach Hause durch. Und besser kennt er sich hier oben auch nicht aus. Der Fremde flüstert ihm zu: „Wenn Du jetzt diesen Weg da runter gehst, und danach nach links abdrehst, kommst Du zu den Häusern. Danach alles in diese Richtung, bis die Strasse ins Dorf kommt.‟ Sepp schaut ihn ungläubig an. Der Fremde schupst ihn mit der Faust und sagt: „Hey Kollege, immer schön locker bleiben, kommt schon gut!‟

Der Fremde ruft seinem Hund und marschiert in die Richtung, in der scheinbar Gefahr lauert. Sepp schaut ihm noch einen Moment lang nach. Danach schaut er sich um, und sieht den Weg, von dem der Fremde sprach. Er wendet sich in diese Richtung, und hofft, dass das nicht in eine Falle führt.

Kaum los gewandert hört er jemanden rufen: „Jetzt nehmen sie endlich ihren Hund an die Leine, der hat mich schon zum zweiten mal erschreckt!‟ Gelächter und ein paar Sprüche folgen darauf hin. Sepp muss lächeln. So ein abgebrühter Hund. Lenkt er doch die Polizei ab, damit ich mit meinem Weihnachtsbaum aus dem Wald komme. Jetzt ist er sicher, dass sein Vorhaben gelingen wird. Vielen Dank Fremder.

Der Weg durch das Dorf nach Hause ist nichts besonderes. Viel Verkehr und alle Personen im Stress. Die Leute nehmen kaum Notiz von ihm. Und bald ist er zu Hause. Zu Hause angelangt, stellt er den Weihnachtsbaum auf den Balkon. Ein Nachbar bemerkt: „Sie haben aber auch einen grossen Weihnachtsbaum.‟ Dem entgegnet Sepp trocken: „Man gönnt sich ja sonst nichts.‟

Maria kommt vom Einkaufen mit den Kindern nach Hause. Wild reden sie durcheinander, und immer wieder hört Sepp, warum man dieses Jahr keinen Weihnachtsbaum gekauft hat. Wir hatten schon letztes keinen. Und das ist doch das schönste an Weihnachten, und überhaupt. Sepp denkt sich, sollen sich die noch ein bisschen aufregen und giesst sich einen tollen Schluck Schnaps in den Kaffee. Verdammt, den hat er sich nun verdient.

Auf dem Estrich sollten doch noch die Schachteln mit dem Weihnachtsschmuck sein. Damit könnte man den Weihnachtsbaum schmücken. Nach einigem Suchen findet Sepp alles, was er benötigt. Wieder in der Wohnung, schaut ihn Maria vorwurfsvoll an und fragt: „Wie lange willst denn du noch in diesen nassen Klamotten herumsitzen?‟ Sepp hat komplett vergessen, dass er endlich etwas trockenes anziehen sollte. Er denkt, wo sie Recht hat, da hat sie Recht. Nach einer warmen Dusche und wieder in trockenen Kleider sieht die Welt noch einmal besser aus.

Mit Maria bespricht er, wie es nun weiter gehen soll. Bald ist eine Lösung gefunden. Die Kinder gehen am Nachmittag ins Dorf an die Kinderweihnachten, und sie beide schmücken den Weihnachtsbaum. Alles passt. Und von den vergangenen Jahren hatte sich so viel Baumschmuck angesammelt, dass die Auswahl bald schwierig wurde. Auch fand man noch eine Packung Kerzen, die irgendwann gekauft, aber nie verwendet wurden. Bald haben auch Sepp und Maria einen herrlichen Weihnachtsbaum, oder wie sie sagten, den schönsten von der Welt.

Die Türe zur Stube wird abgeschlossen. Denn die Überraschung für die Kinder muss noch ein wenig warten. Zum Abendessen kommen die Kinder vom Dorf nach Hause. Eigentlich hat es ihnen an der Kinderweihnachten sehr gefallen. Aber jetzt wieder zu Hause, und das ohne Weihnachtsbaum, das ist halt schon traurig. Und eigentlich können sie beide ja wirklich nichts dafür.

Gedrückte Stimmung bei den Kindern während dem Nachtessen. Sepp muss ein paar mal kräftig Niessen. Als die Kinder fragen, was denn das zu bedeuten habe, meint er nur, dass er vor dem Essen einen neuen Schnupftabak ausprobiert habe, und der wohl schuld sei, dass er dauernd niessen müsse. Er wollte nicht zugeben, dass er sich heute Morgen wohl zu viel zugemutet hatte, und sich dabei etwas erkältete. Maria fragt die Kinder, ob sie ein Weihnachtsvärsli gelernt haben. Sie antworten nur, was soll das, so ohne Weihnachtsbaum. Da hat das ganze keinen Wert. Peter, der jüngere Sohn, fragt plötzlich, warum die Stubentüre geschlossen sei. Auch fragt Daniela, die ältere Tochter, was das denn soll. Sie möchte nun Fernsehen, wenn es doch schon keine Weihnachten gibt. Darauf entgegnet Sepp, dass sie beide ihre Flöten holen, und dann das Lied spielen sollen, das sie in der Schule an der Weihnachtsaufführung gespielt haben. Das möchte er jetzt gerne hören. Die Kinder verschwinden in ihre Zimmer und kommen bald darauf mit den Flöten in die Küche. Maria meint, ihr müsst das aber unter dem Weihnachtsbaum spielen. Die Kinder schauen sie lange an. Was soll denn das schon wieder. Sepp schliesst die Stubentüre auf, schaltet das Licht an und öffnete die Türe weit auf. Jetzt sehen die Kinder den Weihnachtsbaum, und sind erst mal sprachlos.

Doch bald kommt die Freude auf. Gemeinsam zünden sie die Kerzen an. Es wird die schönste Weihnachten, die diese Familie je erlebt hat. Sie singen Lieder und Sepp erzählt, wie es zu diesem Weihnachtsbaum kam. Maria nimmt den Sepp in ihre Arme und dankt ihm von Herzen für diese verrückte Tat. Verlegen meint dann Sepp: „Danke dem Wilden Kerl mit seinem Hund, denn ohne die zwei wäre ich voll in die Falle gelauert. Und dann wäre es nichts mit Weihnachten geworden!‟

Sepp findet etwas später wieder einen gut bezahlten Job. So kann er wieder an Weihnachten einen schönen Tannenbaum kaufen. Doch so schön wie der aus dem Wald ist keiner mehr. Davon erzählt man sich nun jede Weihnachten. Den Fremden aus dem Wald mit seinem Hund lernten sie nie kennen.

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